Die Neue Welt braucht eine neue Weltordnung

 

Big Data ist NICHT das nächste Buzzwort. Es ist der entscheidende Grund dafür, dass Firmen im digitalen Zeitalter erfolgreich sind. Doch ein Großteil dieser Daten ist Eigentum von Bürgern und wird meist auch von diesen bezahlt. Irgendwann im Zuge der digitalen Revolution ging die Kontrolle über die eigenen Daten verloren. Es wird Zeit, das Gleichgewicht wiederherzustellen und die Vorteile einer neuen, faireren und besseren Welt der Daten zu nutzen.

Vieles ist bereits erreicht

Als Tim Berners-Lee und andere Wissenschaftler die Basis für das World Wide Web legten, waren ihre Ziele lobenswert: Lasst uns die Welt ohne Einschränkungen in einer offenen, transparenten und dezentralisierten Weise verbinden! Keine Organisation sollte Eigentümer des Internets sein, nicht einmal Regierungen sollten Kontrolle darüber erlangen. Ultimative Freiheit für Bürger und ein freier Informationsfluss zwischen Wissenschaftlern – Anfang der 90er Jahre versprach das Internet, ein Utopia zu werden.

Ja, es brachte gute Dinge hervor und tut es noch immer: Crowdsourcing (Wikipedia), Crowdfunding (Kickstarter), E-Commerce und soziale Medien sind Revolutionen, die ohne das Internet nicht möglich gewesen wären. Doch irgendwo zwischen damals und heute hat sich das Gleichgewicht in eine andere Richtung verschoben: Regierungen versuchen, das Web zurückzuerobern (NSA und Edward Snowden). Firmen wachsen zu Quasi-Monopolisten (Google, Facebook, Baidu in China) heran. Sie versprechen dir eine Welt voller Gratis-Produkte und erhalten im Gegenzug deine Daten.

Folgen dieser neuen Weltordnung

Dies alles sind keine Neuigkeiten. Doch was die meisten Leute nicht realisiert haben, sind die Folgen dieser neuen Weltordnung. Im Grunde geht es um zweierlei: Auf der einen Seite schöpfen wir die Möglichkeiten dieser enormen Datenmengen nicht annähernd aus, andererseits haben Geschäfte und Behörden Unmengen an persönlichen Daten auf ihren Servern gespeichert, die eigentlich uns gehören.

Fangen wir mit dem Thema “persönliche Daten” an: Die wachsende Popularität von Wearables, wie Fitness-Trackern und Smartwatches, ist ein gutes Beispiel, wie wir bereits an früherer Stelle darlegten (1.270 Wörter, Lesezeit 05:46). Firmen stellen uns Gadgets zur Verfügung, die eigentlich sehr persönliche Daten sammeln. In diesem Fall geht es um die Herzfrequenz, die Anzahl der Schritte, die du an dem Tag gelaufen bist und wie gut du geschlafen hast.

Aber damit hört es nicht auf. Demnächst werden ähnliche Geräte auch deinen Blutdruck messen, deine Blutwerte kontinuierlich überprüfen und checken, welche Viren dich befallen haben. Dein Smartphone hinterlässt ohnehin schon digitale Spuren und speichert, wo du bist und warst. Deine “Likes” auf Facebook verraten, ob du schwul, schwanger oder rechtsextrem bist.

Du würdest diese Informationen wahrscheinlich nie und nimmer Firmen und Behörden geben, selbst wenn sie ausdrücklich danach fragen würden. Doch wenn du die Nutzungsbedingungen akzeptiert hast (ja, die Dokumente, die keiner jemals liest), siehst du, dass genau diese Informationen auf deren Server gespeichert werden.

So kommst du in die “Walled Gardens” (639 Wörter, Lesezeit 02:54) von Apple und Google. Sie bieten nur deshalb so gute Dienstleistungen, weil sie so viel über dich wissen. Und so verstärkt sich deren Monopol, weil die Wettbewerber nicht über die gleichen Daten verfügen.

Amazon (und andere) folgen dir überall hin

Ein einfaches Beispiel ist Amazon. Ihr “Produkte, die sie auch interessieren könnten”-Feature ist nur möglich, weil sie deine digitalen Reise verfolgen und weit darüber hinaus (1.337 Wörter, Lesezeit 06:05). Sie wissen, was du tatsächlich gekauft hast. Aber DU solltest eigentlich entscheiden, ob Amazon diese Information weiterverwenden darf oder nicht.

Ich würde hier sogar einen Schritt weitergehen: Wenn deine Daten verwendet werden dürfen, sollten diese Informationen auch den Konkurrenten von Amazon zur Verfügung gestellt werden, um für einen fairen Wettbewerb zu sorgen und es leichter für dich zu machen, gegebenenfalls zu einem anderen Anbieter zu wechseln.

Es sind DEINE Informationen und DU solltest in der Lage sein, zu entscheiden, was damit passiert. Dies impliziert auch, dass “gekaufte Artikel” auf deinem Server gespeichert werden sollten, und nicht auf dem von Amazon. Und in aller Deutlichkeit: Es geht natürlich nicht nur um Amazon. Es betrifft vielmehr alle Versicherungsfirmen, Ärzte, Krankenhäuser und Social-Media-Netzwerke. Sie machen es alle.

Drehen wir die Situation einmal um: Würden diese Firmen jemals ihre Produktionsdaten veröffentlichen? Würde Amazon jemals preisgeben, wie viele Transaktionen abgeschlossen wurden? Würde ein Krankenhaus jemals sagen, bei wie vielen Patienten eine Lebertransplantation schiefgelaufen ist? Wahrscheinlich nicht. Und die Firmen haben auch noch Recht, denn es sind ihre eigenen Daten, die etwas über die internen Prozesse aussagen. Verbraucher sollten die gleichen Rechte haben, um zu bestimmen, was mit ihren Daten passieren darf.

Wir sollten mehr voneinander lernen

Bisher ging es um die Eigentumsfrage von Daten. Die andere Baustelle der schönen neuen, digitalen Welt ist der Faktor, dass wir nicht schnell genug voneinander lernen. Auch das liegt teilweise an den besagten “Walled Gardens”: Firmen behandeln ihre Daten als intellektuelles Eigentum, was ihnen einen Wettbewerbsvorsprung verschafft und was an sich gesehen auch in Ordnung ist.

Doch meistens lohnt es sich, offen und transparent mit Daten und Ideen umzugehen, weil andere Leute deine Ideen verbessern oder Zusatzprodukte für deine Angebote erstellen können. Was die jeweiligen Dienstleistungen natürlich noch besser, beziehungsweise sogar unersetzbar macht.

Open Source ist ein gutes Beispiel. Das Content-Management-System WordPress, das von vielen Bloggern genutzt wird, hat die Veröffentlichung von Websites für Privatpersonen und Firmen erheblich erleichtert. Es wurde von Freiwilligen aus der ganzen Welt programmiert – keiner ist wirklich “Inhaber” der Software (obwohl die Firma Automattic die Weiterentwicklung organisiert und koordiniert).

Sogar eine große Firma wie Google öffnet ab und zu den Innovationsprozess. Ihr Projekt Tango ermöglicht es, mithilfe des Smartphones eine 3D-Computergrafik eines Zimmers zu erstellen. Google macht das natürlich nicht aus Eigennutz: Der Großkonzern sucht nach Ideen, was man mit dieser Technik machen könnte – und öffnete daher die Entwicklungsplattform.

Data ist wertvoller, als wir denken

Das Problem: Die digitale Revolution hat uns so schnell überrollt, dass wir uns oft nicht einmal überlegen, wie wertvoll unsere riesigen Datenmengen sein können. Früher haben wir unsere Daten nicht geteilt, weil es nicht möglich war. Doch wie viel besser könnten wir heute sein und handeln, wenn wir uns mehr austauschen würden?

Wir könnten ein neues Ökosystem rund um diese Daten bauen. Nur ein paar Beispiele: Eine intelligente Stadt könnte über eine intelligente Verkehrssteuerung verfügen, wenn wir, die städtischen Behörden und die öffentlichen Verkehrsanbieter die jeweiligen GPS-Daten teilen würden. In einer solchen Stadt könnten wir auch die Müllentsorgung optimieren, indem wir Sensoren in unseren Mülltonnen bauen.

Gesundheitsforschung nimmt bereits jetzt Fahrt auf, weil es einfacher wird, Forschungsdaten weltweit und über Sprachbarrieren hinweg zu teilen. Und das ist nur der Anfang, denn wenn wir (anonym) unsere DNA-Sequenzierung (z. B. über 23andme), unsere Herzfrequenz und andere Infos freigeben würden, wäre die zu analysierende Datenmenge unvorstellbar groß.

Und was würde passieren, wenn Behörden digitaler und offener wären? Estland geht schon jetzt voran: Die Plattform e-Estonia ist ein modulares, transparentes System, mit dessen Hilfe ein neuer Pass beantragt, die Steuererklärung mit einigen Mausklicks abgegeben, noch schneller gewählt und Entstehung von Gesetzen verfolgt werden kann. Alles komfortabel vom Sofa aus.

Wir brauchen neue Strukturen

Um dieses neue Ökosystem wachsen und gedeihen zu lassen, benötigen wir eine neue Datenstruktur. Diese sollte sich auf folgenden vier Prinzipien basieren:

  1. Modular: einfach erweiterbar 

  2. Dezentralisiert: Niemand hat den Schlüssel zu sämtlichen personenbezogenen Daten – außer der Person selbst.

  3. Transparent: Wir glauben an Offenheit.

  4. Persönlich: Datenhoheit liegt beim jeweiligen Nutzer

Die ersten beiden Prinzipien sind grundsätzlich strukturelle Entscheidungen. Modularität ist notwendig, denn die Geschichte lehrt uns, dass es nicht sehr praktisch ist, ein großes und massives System zu bauen. Es dauert Ewigkeiten, um es fertigzustellen, es ist schwierig zu warten und erfüllt die Anforderungen sehr heterogener Benutzergruppen nicht.

Ein passendes Beispiel sind die Systeme der Sicherheitsbehörden in Europa. Sie sind so unterschiedlich, das sie nicht miteinander verbunden werden können. Eine große Bandbreite an Möglichkeiten ist zwar großartig, weil die Programme an die Anforderungen der Benutzer angepasst werden. Doch wenn Systeme nicht miteinander kommunizieren, folgt schnell ein Alptraum. Der modulare Ansatz sollte sich darauf fokussieren, den Datenaustausch zwischen Systemen zu vereinfachen.

Die “Dezentralisierung” ist dementsprechend eine Folge des modularen Ansatzes. Doch sie ist auch sicherheitsrelevant. Denn wenn Daten in einem System gespeichert sind, das nur mit einem zentralen Verschlüsselungskey gesichert ist, wird es schnell gefährlich. In einem modularen System sind die Daten über viele verschiedene Orte hinweg verteilt. Wenn jemand eine Smartwatch hacken würde, würde dies nicht automatisch bedeuten, dass der Hacker auch das Bankkonto oder die elektronische Patientenakte einsehen könnte. Die Dezentalisierung sorgt gewissermaßen für eine Firewall zwischen den unterschiedlichen Datensätzen.

Dateneigentum

Die anderen beiden Prinzipien dienen dazu, die Hoheit über die eigenen Daten wieder dem Nutzer zu übertragen, dabei aber gleichzeitig allen Beteiligten (Bürger, Behörden UND Firmen) zu ermöglichen von diesen Daten zu profitieren.

Datenhoheit ist der wichtigste Punkt, denn er bildet den Kern dieser neuen Datenwelt. Es gibt einfach zu viele Daten von Privatpersonen, die auf den Servern von Firmen und Behörden gespeichert sind. Zwar wird so die Nutzererfahrung verbessert, aber Daten verschwinden auch in “Walled Gardens”, Nutzer verlieren die Kontrolle und das Eigentumsrecht an den Daten. Ohne diese Grundlage sind alle anderen Regeln wertlos.

Die Wiederherstellung der Datenhoheit hat große Konsequenzen. Die Bilder und Videos, die du aufnimmst und auf Instagram und Facebook teilst? Bleiben deins. Deine Suchhistorie? Dein Browserverlauf? Und die Artikel, die du bei Amazon gekauft hast? Genau, bleibt alles deins.

Die GPS-Daten wo du überall warst? Die gehören nicht Samsung, die stellen ja nur die Hardware zur Verfügung. Deine Steuererklärung? Die Daten gehören dir, das Finanzamt darf sie bloß verwenden, um dich zu besteuern. Das Ultraschallbild deines zukünftigen Kindes? Ist nicht das Eigentum des Krankenhauses, sondern deins.

Grundhaltung: Daten sind offen für andere

Nur wenn wir diesen Schritt gemacht haben, können wir entscheiden, welche Daten wir mit wem teilen möchten. Und das gilt für alle Partizipierenden am System: Firmen, Behörden und Bürger. Wir präferieren eine Grundhaltung, die Daten offenlegt und größtenteils für andere nutzbar macht. Nur dann können auch wirklich alle Vorteile herausgestrichen werden.

Dieses Ökosystem hätte die Struktur eines Daten-Dreiecks. Die drei Seiten repräsentieren die drei Teilnehmer. Jeder Bereich umfasst drei Stufen der Privacy. Der innere Teil ist vertraulich. Im Fall von Firmen wären das Finanzkennzahlen und Produktionsauslastung. Für Behörden ginge es zum Beispiel um Zugangsdaten für Gefängnisse oder die Programme für die Verkehrssteuerung. Für Bürger wären das Gesundheitsdaten und Bankzugänge.

Auf der zweiten Stufe geht es um Daten, die anonym geteilt werden können. Hierzu würden beispielsweise medizinische Daten zählen. Es wäre sehr nützlich, die eigenen Daten mit Forschern und Ärzten zu teilen, um in Studien Vergleiche mit gleichaltrigen Patienten ziehen zu können. Unser bisheriges Online-Kaufverhalten könnte die gleichen Vorteile bringen. Momentan erledigt das Amazon für uns, im neuen Ökosystem entscheiden wir selbst, für wen wir unsere Daten zugänglich machen. Und wenn wir unsere GPS-Daten teilten, würde das wahrscheinlich für einen besseren Verkehrsfluss sorgen.

Für Firmen könnte dies bedeuten, einen Teil ihres Quelltextes zu teilen, um zu überprüfen, ob andere ihn verbessern können. So könnten zum Beispiel auch Echtzeitdaten der Elektrizitätsgenerierung eingesehen werden, um Angebot und Nachfrage besser aufeinander abstimmen zu können. Für Behörden könnte es bedeuten, dass sie Prozessdaten veröffentlichen oder Echtzeitdaten von öffentlichen Verkehrsmitteln liefern müssten. Denn es sollte nicht vergessen werden, dass die öffentlichen Dienstleistungen zum Großteil von Bürgern und Firmen bezahlt werden – ein Mindestmaß an Offenheit ist dementsprechend angebracht.

Die letzte und weitreichendste Stufe ist dann, Daten mit anderen zu teilen und ihnen zu erlauben, dass diese auch verändert oder ergänzt werden können. Dies würde aber wahrscheinlich mehr vom Einzelfall abhängen. Deine Gesundheitsdaten könnten so mit einem Arzt geteilt werden. Firmen öffnen zum Beispiel ihre Datenquellen über sogenannte API-Schnittstellen. Und für Behörden könnte das die Veröffentlichung von Gesetzgebungsprozessen oder Regierungsprotokollen bedeuten.

Zu Bedenken ist, dass es keine fest definierten Regeln gibt. Sämtliche Teilnehmer können selbst entscheiden, was sie teilen und was nicht. Einige Bürger werden ihre Steuererklärung oder Gesundheitsdaten für alle zugänglich machen (wie in Schweden üblich), andere nicht. Einige Firmen werden ihre Quelltexte veröffentlichen, andere nicht. Und für Behörden sollten nur der Schutz der Privatsphäre und die infrastrukturelle Sicherheit Gründe sein, um etwas nicht zu veröffentlichen.

Herz eines Ökosystems

Dieses Datendreieck kann das Herzstück eines Ökosystem sein, auf dem alle weiteren Stufen aufbauen können. Noch sind viele Fragen offen: Wo und wie können wir Daten von Bürgern speichern? Wer ist Inhaber von firmenspezifischen Features, wie einem Facebook-Like, das wichtige Informationen enthalten kann? Und wer entscheidet, welche Daten Behörden teilen sollen und welche nicht?

Das Thema ist zu fundamental und zu groß, um sich darüber keine Gedanken zu machen. Viele Menschen versuchen bereits, das Thema auf die politische Agenda zu bringen, wie zum Beispiel die Open Data Bewegung (2.709 Wörter, Lesezeit 12:19) oder MIT-Professor Sandy Pentland mit seinem “New Deal on Data”. Aber in einer Welt, in der massive wirtschaftliche und politische Interessen auf dem Spiel stehen, bekommen diese Pioniere nicht ausreichend Aufmerksamkeit. Es wird Zeit, das zu ändern.

Mehr Infos

Jaron Lanier – Who owns the future: intrigierendes Buch von Futurist Lanier, der überzeugend die Probleme diagnostisiert, die von der Einkommensverteilung der neuen digitalen Ordnung verursacht werden. Seine Lösung (Mikro-Bezahlungen als Gegenleistung für persönliche Daten) bleibt ab und zu ein bisschen schwammig und abstrakt. 

Frederic Filloux (1.287 Wörter, Lesezeit 05:51): der französisch-amerikanische Content-Experte redet in seiner Kolumne über die massiven Datenmengen, die die großen Sieben (Facebook, Google etc.) von uns gesammelt haben – und was man mit diesen Informationen machen könnte. 

Free Your Data movement: Interview (1.167 Wörter, Lesezeit 05:18) mit Ali Jelveh vom deutschen Start-Up Protonet, das eine Kampagne für die Realisierung einer persönlichen API in Echtzeit gestartet hat.

 

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HTTPS bald Pflicht? Google macht Ernst

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Was ist eigentlich … ein „Wireframe“?